Berlin, 7.10.2004 - 55. Jahrestag der Gründung der DDR - Festveranstaltung der Gesellschaft für Bürgerrecht und MenschenwürdeBilder

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Rede von Friedrich Wolff zum 55. Jahrestag der Gründung der DDR, aus 'junge Welt' vom 11.10.2004

* Zu einer Festveranstaltung zum 55. Jahrestag der Gründung der DDR hatte die Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) am 7. Oktober in Berlin geladen, und über 600 Gäste waren gekommen. Das Referat hielt Rechtsanwalt Friedrich Wolff. jW veröffentlicht eine leicht gekürzte Fassung.

Die DDR war der Versuch, in Deutschland Sozialismus zu gestalten. Wir begehen ein Jubiläum, das zum Jubilieren keinen Anlaß bietet. Uns schmerzt die Niederlage, die der Sozialismus erlitten hat, und wir bekennen das.

Wie anders sah die Welt am Ende des vierten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts aus. Die Deutschen lebten - soweit sie noch lebten - nach einer Katastrophe. Sie hatten die Katastrophe hinter sich, und sie kannten ihre Ursache. Kurt Schumacher, später Vorsitzender der SPD, erklärte 1945 in Kiel: »Auf der Tagesordnung steht heute als der entscheidende Punkt die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung und die Überführung der Produktionsmittel aus der Hand der großen Besitzenden in gesellschaftliches Eigentum, die Lenkung der gesamten Wirtschaft nicht nach privaten Profitinteressen, sondern nach Grundsätzen volkswirtschaftlich notwendiger Planung.« Und in das Parteiprogramm der rheinischen CDU, deren Vorsitzender damals Konrad Adenauer war, wurde 1947 die Erkenntnis aufgenommen: „Inhalt und Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.«

Nichts bleibt, wie es ist

Man kann wohl sagen, alle politisch denkenden Deutschen sahen nach 1945 im Kapitalismus die Ursache ihres Elends. Erst als der Schock des Zusammenbruchs des sogenannten Dritten Reiches überwunden war und der Kalte Krieg begonnen hatte, wurde diese Einsicht vergessen gemacht, nur die DDR blieb 40 Jahre bei dem Ziel, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Jetzt ist wieder alles beim alten. Anders ausgedrückt, wir stehen wieder am Anfang, ganz am Anfang. Vergessen ist, was damals für alle klar war, vergessen nicht nur bei der CDU, nicht nur bei der SPD. Doch die Probleme sind geblieben und sie werden immer drückender. Seit der Sozialismus aus Europa wieder verschwunden ist, hält der Kapitalismus Kosmetik nicht mehr für erforderlich. Sogenannte Reformen müssen her. Der Staat der sozialen Marktwirtschaft wird zum Staat der Marktwirtschaft pur reformiert. »Hartz IV« heißt eine Parole. Das Wort »Kapitalismus« wird bei einigen wieder salonfähig, Protest wird laut und lauter. Demos werden pietätlos zu Montagsdemos, man trägt Transparente mit Aufschriften wie »Marx statt Hartz!«.

Von der DDR ist mehr geblieben als nur der grüne Pfeil, mehr als den Herrschenden lieb ist. Die 14jährige sogenannte Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hat nicht jede positive Erinnerung ausgelöscht. Man erinnert allmählich wieder, daß jeder Arbeit, jeder eine Wohnung hatte, daß jeder Schulen und Hochschulen besuchen konnte, daß Frauen die gleichen Rechte hatten, daß sie sich ihren Kinderwunsch erfüllen konnten, daß es keine Zweiklassenmedizin gab und jeder sich Theater, Bücher, Kultur überhaupt leisten konnte, daß man sicher war, sicher vor Kriminalität und existenzgefährdender Armut. Man erinnert wieder, daß alles das so selbstverständlich war, wie es heute unerreichbar und irreal erscheint. Unvorstellbar war, daß es einmal anders sein könnte. Es kam aber anders. Man verlangte Sicherheit plus D-Mark. Man bekam die D-Mark bzw. den Euro und verlor die Sicherheit. Unvorstellbar erscheint vielen, daß es wieder einmal anders kommen könnte. Fest steht jedoch: Nichts bleibt, wie es ist.

»Unrechtsstaat«

Die Erinnerung an das, was in der DDR möglich war, ist unerwünscht. Sie soll nicht sein. Sie wird verdrängt mit allen Mitteln moderner psychologischer Manipulation. Positive Erinnerung ist Nostalgie oder Ostalgie, die DDR ist ehemalig, ist miefig, ist totalitär, ist ein Unrechtsstaat, ist die zweite deutsche Diktatur, vergleichbar mit dem Hitler-Staat, war ein Gefängnis oder gar ein KZ. - Warum diese mediale Anstrengung? Sie fürchten, daß das Ende der Geschichte doch nicht gekommen ist, daß der Sozialismus wiederkommt.

Deswegen soll die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sein. Krause, der DDR-Unterhändler, ist Experte für Unrecht. Ausgerechnet er unterschrieb im Einigungsvertrag, daß die Regierung der DDR als »Unrechtsregime« klassifiziert wurde. Nur, was ist ein Unrechtsstaat? Dafür gibt es keine Meßlatte, keine Norm. Unrechtsstaat ist ein politischer Begriff, ein Kampfbegriff, kein Rechtsbegriff. In keinem bundesdeutschen Rechtslexikon findet sich das Stichwort »Unrechtsstaat«. Das Prädikat »Unrechtsstaat« wird von der Politik verliehen und von den Medien verbreitet. Die USA z.B. sind ein Rechtsstaat und auch die Türkei hat den Stempel Unrechtsstaat nie erhalten. Überhaupt kein anderer Staat wird von Deutschen so diffamiert, einzig die DDR.

Weil es - angeblich - soviel Unrecht in der DDR gab, mußten viele Strafverfahren eingeleitet werden, um das »Unrecht« aufzuarbeiten. An Geld und Personal mangelte es nicht. Weil man bei der Aufarbeitung des Naziunrechts, wie man selbst bekannte, versagt hatte, mußte man zeigen, daß man Lehren aus der Geschichte gezogen hatte. Wie einst die Nazis, sahen die BRD-Politiker in den Kommunisten ihren Hauptfeind. Ist das Zufall? Sie hatten Erfahrung: Von 1949 bis 1968 verfolgte die Justiz der alten Bundesrepublik die westdeutschen Kommunisten. Die KPD wurde verboten, 125000 Ermittlungsverfahren wurden gegen die Roten eingeleitet. Die Zahl der Verurteilungen war relativ gering, aber die strafrechtliche Verfolgung war begleitet von Berufsverboten, Entlassungen und Entzug der Renten für Verfolgte des Hitlerregimes. Die Kommunisten wurden so als politische Kraft in der BRD ausgeschaltet.

Nach dem 3. Oktober 1990 begann die politische Justiz, nach demselben Muster in den neuen Bundesländern zu arbeiten. Über 100000 Ermittlungsverfahren wurden von den Staatsanwälten gegen Grenzsoldaten, Juristen, MfS-Angehörige und Politiker der DDR eingeleitet. Laufend wurde in den Medien darüber berichtet. Es gehört zur Allgemeinbildung, daß Stasi gefoltert hat, daß Dissidenten in die Psychiatrie verbracht, daß Kinder ihren Eltern weggenommen und zwangsadoptiert wurden usw. - Was brachten die 100 000 Ermittlungsverfahren tatsächlich? Generalstaatsanwalt Schaefgen hat es in der juristischen Zeitschrift Neue Justiz berichtet, wer die Zeitschrift nicht las, hat es nie erfahren.

Von den über 100000 beschuldigten DDR-Bürgern wurden nach Schaefgen bis Anfang 1999 »nur etwa 300 rechtskräftig verurteilt«. Die Professoren Klaus Marxen und Gerhard Werle von der Humboldt-Universität zählten 289 Verurteilte. Von diesen 289 wurden 86 mit einer Geldstrafe, 184 mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung und 19 mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung bestraft. Die Zahlen sprechen für sich. Keine Rede von Folter, Zwangsadoptionen, Einweisungen in die Psychiatrie. Nicht ein einziges Ermittlungsverfahren wegen dieser Vorwürfe nennt Schaefgen. Trotzdem wird immer wieder mit solchen Behauptungen argumentiert.

Die Frage, ob die 289 Verurteilungen rechtens waren, stellt niemand. Sie liegt außerhalb jeder Vorstellungskraft. Natürlich, denkt der deutsche Michel, waren sie rechtens, wo leben wir denn? Die BRD ist ein Rechtsstaat. Tatsächlich waren die Urteile überwiegend oder sämtlich Unrechtsurteile. Sie verstießen u.a. gegen das im Strafgesetzbuch, im Grundgesetz und in der Europäischen Menschrechtskonvention verankerte Rückwirkungsverbot, sie verstießen also gegen Menschenrechte. Sie verstießen auch gegen anderes deutsches und Völkerrecht. Eine große Zahl unabhängiger deutscher Rechtswissenschaftler, Rechtsanwälte und auch hoher pensionierter Richter hat darauf in der juristischen Fachpresse hingewiesen. Erfolglos, die Richter des BGH, des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte - einschließlich der Richter aus den ehemals sozialistischen Staaten - entschieden anders. Ihre Entscheidungen entsprachen dem vorher von der Politik verkündetem Urteil: Unrechtsstaat. Kein einziges Gericht folgte auch nur in einem einzigen Fall der publizierten Meinung seiner Rechtslehrer.

Die Schüler wußten es besser. So unabhängig ist die Justiz. Das alles schadet dem Nimbus der BRD nicht, sie ist und bleibt ein Rechtsstaat. Die Unrechtsurteile der DDR, die es auch gab - ich nenne beispielhaft die Urteile gegen Walter Janka, Wolfgang Harich und Rudolf Bahro -, waren genauso politisch motiviert wie die Urteile gegen Kommunisten und DDR-Bürger, die die bundesdeutsche Justiz seit ihrem Bestehen gefällt hat, nur gingen sie in eine andere politische Richtung.

Nach Bismarck, nach Weimar, nach Hitler, nach Stalin, nach Adenauer war das ein weiterer Schlag gegen Linke in Deutschland. Keiner der berühmten investigativen Journalisten macht die Bilanz der Vergangenheitsbewältigung publik. Die freie Presse nimmt sich die Freiheit, darüber zu schweigen. Alle gehorchen einem nicht gegebenen Kommando. Politisch war die Kampagne deswegen ein Erfolg, die Eliten der DDR wurden fast vollständig aus dem öffentlichen Leben und besonders aus der Politik entfernt. Diffamierung ersetzte das Einsperren.

»Zweite deutsche Diktatur«

Ein anderer Stempel, der der DDR aufgedrückt wird, heißt »zweite deutsche Diktatur«. Er entlarvt bei genauerem Hinsehen seine Urheber. So wird heute und hier deutsche Geschichte aufgearbeitet: Alles war in Deutschland paletti, bis die Nazis kamen, die man im Gegensatz zum MfS immer mit ihrem offiziellen Namen als Nationalsozialisten bezeichnet. Die Sozialistische Einheitspartei sei - so heißt es - in ihre Fußstapfen getreten und danach, seit 1990, ist wieder alles paletti. Die beiden einzigen deutschen Diktaturen werden so zu sozialistischen Diktaturen. Offiziell leugnet man ihre Gleichsetzung, man vergleiche nur, doch das ist nicht wahr. Besonders in der Rechtsprechung werden dieselben rechtlichen Konstruktionen gegen Kommunisten und Sozialisten wie gegen Nazis angewendet, nur eben eifriger.

Was heißt überhaupt erste oder zweite deutsche Diktatur? Was ist das für ein Geschichtsbild? Was herrschte denn z.B. in Deutschland 1781 für ein Regime, als Schiller die Räuber schrieb und ihnen als Motto »in tyrannos« voranstellte. Das war wohl keine Diktatur, weil es Tyrannei war? Und was herrschten in Deutschland für Zustände, als 1834 Büchner im Hessischen Landboten schrieb: »Ihr seid nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos. Ihr müsset geben, was eure unersättlichen Fresser fordern, und tragen, was sie euch aufbürden. So weit ein Tyrann blicket - und Deutschland hat deren wohl dreißig -, verdorret Land und Volk.«

Etwas später, bei Friedrich Wilhelm IV., gab es einen echten Schießbefehl. Er ließ am 18. März 1848 mit Kanonen auf seine »lieben Berliner« schießen, als diese ein wenig Demokratie wollten. Auf dem Schloßhof lagen am Tage danach 183 Tote. In der Festung Rastatt wurde 1849 jeder zehnte der vom preußischen Militär gefangen genommenen Revolutionäre erschossen. Danach sang das Volk lange: »Schlaf, mein Kind, schlaf leis’ - dort draußen geht der Preiß - wir alle müssen stille sein - als wie dein Vater unterm Stein.« Ein Diktator war Friedrich Wilhelm IV. natürlich nicht, man nennt ihn heute Romantiker und will sein Schloß, vor dem die toten Demokraten lagen, wieder aufbauen und dafür den Palast der Republik abreißen.

Und so ging das weiter. Es folgte 1852 der Kölner Kommunistenprozeß mit gefälschten Papieren eines Spitzels, 1878 Bismarcks Sozialistengesetz, es folgte 1891 die Rede Wilhelm II. anläßlich einer Rekrutenvereidigung. Der Kaiser sprach demokratisch human: »Kinder Meiner Garde! Ihr habt euch Mir mit Leib und Seele ergeben, ihr seid jetzt Meine Soldaten! (...) Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, daß Ich euch befehle, eure eigenen Verwandten niederzuschießen oder niederzustechen, aber auch dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen.« - Von dem Völkermord an den Hereros reden wir nicht, man hat sich ja bei ihnen entschuldigt, und vom 1. Weltkrieg auch nicht, denn das hat mit Diktatur für unsere heutigen Demokraten ohnehin nichts zu tun. Bei feierlichen Anlässen geht man nach wie vor in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.

Die Taten der Hohenzollern müssen nicht aufgearbeitet werden. Im Gegenteil. Günter Gaus schilderte, daß manche demokratischen Politiker vor seinen Augen letztes Jahr aufblühten, »als ein Hohenzoller auf dem Berliner Empfang zum 3. Oktober durch die Saaltür trat«. (Freitag, 21.5.2004) Ist das Feudal-Nostalgie? Nein, Nostalgie ist nur DDR-Nostalgie.

»Freiheit und Demokratie«

Reden wir weiter von der »zweiten deutschen Diktatur«. Eine Diktatur soll es gewesen sein, weil es keine freien Wahlen gab, keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wir wußten schon immer, was das »Zettelfalten« war, jetzt wissen wir, was freie Wahlen sind. Viele, zum Teil über die Hälfte der Wahlberechtigten, gehen nicht mehr hin. Sie stellen sich offenbar etwas anderes unter Wahlen vor. Es sind nicht nur die Unpolitischen, Uninteressierten, die nicht an die Urne gehen. Der eben zitierte Günter Gaus bekannte am 23. August 2003: »Selbstverständlich nehme ich nicht mehr an Wahlen teil.« Und er begründete diesen provokanten Satz so: »Schneller als gedacht wird die Verflachung der Politik in den Massenmedien ein bißchen amüsieren, schließlich langweilen und abstumpfen - und in jedem Fall das allgemeine und gleiche Wahlrecht aushöhlen. Ich bin kein Demokrat mehr. Wie einst das Dreiklassenwahlrecht bestimmte Interessen begünstigte, so wird die Wahlausübung des bei Laune gehaltenen Fernsehpublikums interessengesteuert sein von gesellschaftlichen Gruppen, die selber wenig fernsehen.« Der Journalist Paul Sethe wurde noch deutlicher: »Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.«

Die Demokratiedefizite waren in der DDR unverhüllter als in der BRD. Die führende Rolle der SED war in Art. 1 der Verfassung festgeschrieben. Da gab es keine Alternative. Jetzt gibt es scheinbare Alternativen, doch hinter den Namen der unterschiedlichen Parteien verbirgt sich dieselbe Politik, von der es heißt, sie sei alternativlos. Die Wahl wird zur Farce. Auf weiten Lebensgebieten herrscht Diktatur. Im Arbeitsleben, im alltäglichen Leben überhaupt diktiert der Eigentümer, der Kapitalist. Die privaten Hauseigentümer und die Arbeitgeber haben eine unbeschränktere Macht, als etwa die Kommunalen Wohnungsverwaltungen oder die Betriebsleiter der VEB hatten. Auf vielen Gebieten waren die Menschen in der sogenannten zweiten deutschen Diktatur freier und gleicher als in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Demokratie in der BRD endet da, wo das Privateigentum beginnt. Doch jeder hat die Freiheit, den Bundeskanzler einen Lügner nennen.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. In der BRD diagnostizieren viele eine Krise der Demokratie. Hans Herbert von Arnim, Professor für öffentliches Recht und Verfassungsrecht, sagt lapidar: »Die Demokratie ist in Deutschland kaum mehr als ein schöner Schein.« Daniela Dahn spricht von einer »schleichenden Entdemokratisierung«. Die steigende Zahl der Nichtwähler zeigt wie auf einer Meßlatte das Ausmaß der Krise der bürgerlichen Demokratie.

Diese Krise ist nicht nur, wie Gaus anscheinend meint, eine Folge der Meinungsmanipulation durch die Medien. Jedenfalls nicht allein. Sie hat eine Vielzahl von Ursachen. Professor von Arnim sieht eine davon im Status der Politiker, die sich selbst als »politische Klasse« bezeichnen. Von Arnim sagt: »Die politische Klasse hat das System so ausgestaltet, daß sie die strategischen Positionen besetzt und fast alles unter sich ausmacht.« Von Arnim wird noch deutlicher: »Solange die Bezahlung gering war, konnte man davon ausgehen, daß Postenjäger nicht angelockt würden, weil es eher ein Opfer darstellte, sich für ein Leben von der Politik zu entscheiden. Je üppiger aber die Positionen ausgestaltet werden, je höher die Bezahlung, je überzogener die Versorgung, je ausgeprägter die Privilegien und je sicherer und abgeschotteter die Pfründe gegen Konkurrenz und Abwahl sind, desto weniger kann ausgeschlossen werden, daß sie von vielen nur wegen des Geldes, des Ansehens und des sonstigen Status des Mandatsträgers angestrebt werden.« Weiter stellt von Arnim fest: »Die politische Klasse baut nicht mehr auf der Basis auf, lebt von ihr weder ideell noch finanziell und wird von ihr auch nicht kontrolliert. Vielmehr kontrolliert die politische Klasse umgekehrt zunehmend die Basis.« Das ist wohl wahr und das erklärt vieles. Doch die materielle Interessiertheit der Abgeordneten an einem Mandat, der Politiker überhaupt an lukrativen Posten, ist nicht die letzte Ursache der Krise der Demokratie. Das sieht auch von Arnim. Er geht dieser letzten Ursache allerdings nicht weiter nach. Er sagt nur: » Schon seit längerem zeichnet sich ab, das unser politisches System die Herausforderungen nicht mehr bewältigt.« Und fügt hinzu: »Schuld ist das System«. Das ist es.

Schuld ist das System Kapitalismus. Es macht alles zur Ware, die Arbeitskraft, die Gesundheit, die Kultur und eben auch die Politik. Die Politiker sagen, ihre Politik sei alternativlos, sie nennen sie Reformpolitik, und sie nennen sie modern. Sie ist jedoch von vorgestern, ist Bismarcks Politik zur Zeit des Sozialistengesetzes, bevor er sich zur Sozialgesetzgebung entschloß. Die Reformer wollen die Uhr zurückdrehen, wollen den Menschen einreden, das Gestern ist das Morgen. Sie wollen glauben machen, das kapitalistische System würde ewig bestehen. Nach dem tausendjährigen Reich der Nazis sei jetzt das ewige globale Reich der Shareholder angebrochen.

Die BRD haben wir überschätzt

Der Rückblick auf unsere 14 Jahre in der BRD enthält - jedenfalls für mich - manches Überraschende. Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, Drogenmißbrauch und Kriminalität, schöne Autos und Konsumfreuden hatte ich erwartet. Doch daß die Bundesbahn nicht pünktlich ist, daß große Manager in großen Unternehmen großen Mist machen, daß Politiker käuflich sind, daß die Politik mit Problemen wie Hundehaltung, Ladenschlußzeiten, Rechtschreibreform und erst recht mit Steuer-, Gesundheits-, Rentenreform nicht fertig wird, daß Gesetze dilettantisch gemacht sind, das alles hatte ich nicht erwartet. Ich hatte geglaubt, die Bundespolitiker, die Bundesbeamten und natürlich die Wirtschaftskapitäne seien besser, als unsere Funktionäre es waren. Ich hatte sie überschätzt. Auch die Juristen habe ich überschätzt. Sie haben zwar mehr und dickere Bücher und Zeitschriften, haben ein längeres Studium absolviert, können besser Englisch, aber die Urteile sind nicht besser und die Gesetze auch nicht. Ein Reformgesetz jagt das andere, ihnen folgt die Nachbesserung, der Nachbesserung folgt das Bundesverfassungsgericht. Ich kann es nicht beweisen, aber ich habe den Eindruck, dieses Land, dieses System ist krank und wird sich nicht mehr erholen. Nicht wenige Menschen fühlen sich an die letzten Tage der DDR erinnert.

Es geht auch ohne Kapitalisten

Die offizielle Meinung sagt uns, der Sozialismus ist gescheitert, nicht die DDR oder die UdSSR sind gescheitert. Diese Behauptung ist nicht bewiesen, sie ist falsch. Viele sind jedoch von ihr überzeugt. Die europäischen sozialistischen Staaten werden mit dem Sozialismus gleichgesetzt. Wenn kapitalistische Staaten zurückbleiben oder vor dem Bankrott stehen, sagt niemand, der Kapitalismus ist gescheitert. Wäre der Sozialismus wirklich gescheitert, würde nicht soviel Kraft, Geld und Personal darauf verwendet werden, ihn »aufzuarbeiten«, d. h. totzureden. Es gilt, die sozialistische Idee als widerlegt auszugeben, um sie unschädlich zu machen.

Die Frage: Warum scheiterte die DDR? ist deshalb eine Frage von aktueller tagespolitischer wie strategischer Bedeutung für die Politik. Bei ihrer Beantwortung muß man die Dinge nicht komplizierter sehen, als sie sind. Es gab sicher viele Ursachen, äußere und innere, objektive und subjektive, aber eine Ursache erscheint mir als die wichtigste: Die Feinde der sozialistischen Länder waren von Anfang an stärker und sie blieben es bis 1990.

Andere Faktoren traten hinzu. In Stichworten seien genannt
  • die Deutschen in der DDR haben den Sozialismus nicht mit eigener Kraft errichtet,
  • der Import des Sozialismus war verbunden mit dem Import seiner sowjetischen Realisationsform, die nicht mehr zeitgemäß war,
  • die Nachbarschaft zum größeren, reicheren und mit potenteren Staaten verbündeten Westdeutschland,
  • der Verlust der besten Köpfe, den die deutsche sozialistische Bewegung von 1919 -1945 erlitten hatte,
  • die unmögliche Propaganda - ein Hauptmanko der DDR und - damit soll die unvollständige Aufzählung schließen -
  • das Demokratiedefizit.
Unrecht haben nach meiner Meinung diejenigen, die meinen, der reale Mensch sei nicht gut genug für den Sozialismus. Kuba beweist das Gegenteil. Richtig ist vielmehr, der Kapitalismus ruiniert den Menschen.

Viele ehemalige DDR-Bürger und auch viele Wessis kennen die Schattenseiten des kapitalistischen Systems, aber die DDR wollen sie nicht wiederhaben. Die Frage »Zurück in die DDR« steht jedoch nicht. Ein Zurück gibt es nicht. Zu entscheiden ist lediglich, soll die BRD, soll Europa kapitalistisch bleiben? Das ist die Kardinalfrage.

Wenn wir der DDR gedenken, dann sollten wir das nicht nur mit Nachsicht, sondern mit Stolz tun. In der DDR wurde gezeigt, es geht auch ohne Kapitalisten. Es wurde nicht nur theoretisiert, sondern eine ganze Volkswirtschaft, eine ganze Gesellschaft wurde von Grund auf umgestaltet, wurde echt modernisiert. War das alles nichts? Nehmen wir die DDR als das, was sie aus heutiger Sicht ist: ein Vorläufer. Versuchen wir aus ihren Erfolgen und ihren Fehlern zu lernen, damit die Kinder oder die Enkel es besser ausfechten. Bleiben wir optimistisch, daß am Ende nicht die Barbarei, sondern der Sozialismus triumphiert.

Quelle: www.jungewelt.de