Medien und Krieg - Das 'Massaker von Srebrenica'
Ein fragwürdiges Video
Artikel von Ralph Hartmann über das so genannte Srebrenica-Video - aus 'Ossietzky' vom 9.7.2005

Das Sujet scheint aus einem Horrorfilm zu stammen: Eine Gruppe von Uniformierten zerrt sechs gefesselte Zivilisten von einem Lastkraftwagen, führt sie auf einen Hügel. Vier der Gefesselten werden gezwungen, sich auf den Bauch zu legen, dann werden sie einer nach dem anderen erschossen. Die zwei noch Lebenden legen die Leichen auf einen Haufen, dann werden auch sie exekutiert. Weder die Mörder noch ihre Opfer zeigen irgendwelche Gefühle. Alles erscheint dadurch nahezu unwirklich, was aber die brutale Wirkung auf den Betrachter eher verstärkt denn mildert.

Das grausame Geschehen ist auf einem Video festgehalten, das der stellvertretende Chefankläger des Haager Jugoslawien-Tribunals, Geoffrey Nice, Anfang Juni im Prozeß gegen den jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic während der Befragung eines Zeugen der Verteidigung vorspielen ließ. Laut Nice zeigt es die Ermordung von Moslems aus Srebrenica im Juli 1995 durch Angehörige der serbischen Sondereinheit 'Skorpione' des Belgrader Innenministeriums. Ziel der Vorführung des Videos war es zu beweisen, daß die Polizei Serbiens an Mordtaten in Srebrenica beteiligt war, und so einen Zusammenhang zwischen diesen und dem Angeklagten herzustellen. Das ging auch aus der freundlich-hinterhältigen Frage des Anklägers an den Zeugen, den ehemaligen stellvertretenden Innenminister Serbiens, Obrad Stevanovic, hervor, ob dieser denn die »Möglichkeit« einräume, »daß die 'Skorpione', die dem Innenministerium Serbiens unterstellt waren, an der Hinrichtung von 7000 Moslems in Srebrenica beteiligt waren«. Der Zeuge verneinte das energisch, wobei er betonte, daß die paramilitärische Einheit 'Skorpione' niemals dem serbischen Innenministerium unterstellt war.

Doch das Video verfehlte seine Wirkung nicht. Nice und seine Chefin, die von Pannen und Pleiten geplagte Carla del Ponte, schienen endlich eine Trumpfkarte gezogen zu haben, mit der sie nachweisen konnten, daß die Befehle zum Kriegsverbrechen in Srebrenica aus Belgrad gekommen waren. Die schrecklichen Bilder wurden weltweit ausgestrahlt. Sie schockierten. Ihre emotionale Wirkung war so stark, daß selbst überzeugte Gegner des grotesken NATO-Prozesses gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten meinten, dieser könne dadurch in Bedrängnis geraten.

Auch Milosevic reagierte betroffen. Er brandmarkte das filmisch festgehaltene Geschehen als ein Verbrechen, doch das Video bezeichnete er als »sehr fragwürdig«. Auch nach genauer Durchsicht des gesamten Filmmaterials sei, so Milosevic, nicht festzustellen, wann das Verbrechen geschah und woher die Opfer kamen. Auf Befragen mußte Nice eingestehen, daß der Tatort nicht, wie von ihm suggeriert und von den meisten Medien begierig aufgegriffen, in unmittelbarer Nähe von Srebrenica liegt, sondern sich in Wirklichkeit 160 Kilometer entfernt am Berg Jahorina südlich von Sarajewo befindet. Weiter verwies Milosevic darauf, daß zu jeder auf dem Video chronologisch aufgezeichneten Sequenz mit Ausnahme der Mordszene ein exaktes Aufnahmedatum vermerkt, zur letzten Szene auf dem Band jedoch der 3. Juli 1995 angegeben ist, also ein Datum vor der Einnahme Srebrenicas. Hinzu komme, daß auf Teilen des Videos, die Nice im Gerichtssaal nicht zeigen ließ, zu sehen ist, daß die Paramilitärs mit einem Auto fuhren, das ein Kennzeichen der Truppen der Serbischen Republik Krajina trug.

Allein schon damit wurde deutlich, daß das sensationelle Video der Anklage nicht der Wahrheitsfindung im Prozeß, sondern der Manipulation der internationalen Öffentlichkeit diente. Auch der von Milosevic abgelehnte britische Zwangsverteidiger Steven Kay nannte das Vorspielen des Bandes »reinen Sensationalismus«.

Doch selbst wenn die Anklage das Video nicht tendenziös ausgelegt hätte und die Angaben zu Ort und Zeitpunkt des von den 'Skorpionen' begangenen Verbrechens exakt gewesen wären, hätte das Band keinerlei Beweiskraft im Verfahren gegen Milosevic. Die serbischen Paramilitärs unterstanden nicht, wie behauptet, der Kontrolle des Innenministeriums in Belgrad, sondern nachweislich agierten sie auf Seiten der in Kroatien liegenden Serbischen Republik Krajina und später der Srpska Republika in Bosnien, mit denen Milosevic unter dem scharfen Protest serbischer Nationalisten gebrochen hatte. Und was den schrecklichen Massenmord in Srebrenica anbelangt, dessen Hergang und Opferzahl nach wie vor heftig umstritten sind, so trifft Milosevic trotz aller Tricks der Chefanklägerin del Ponte, das Gegenteil zu beweisen, nach dem bisherigen Prozeßverlauf keine Schuld. Das geht nicht zuletzt aus einem 3496 Seiten langen Bericht des Institutes für Kriegsdokumentation der Niederlande hervor; die Niederlande hatten damals die UN-Truppen in Srebrenica gestellt. Einer der Autoren, der Wissenschaftler Cees Wiebes, erklärte zur Rolle des damaligen serbischen Präsidenten: »In unserem Bericht kommen wir zu dem Schluß, daß Milosevic keine Vorabkenntnis über die folgenden Massaker hatte. Was wir fanden, waren Beweise für das Gegenteil. Milosevic war empört, als er von dem Massaker erfuhr.«

Von welcher Seite her das »sehr fragwürdige Video« auch betrachtet wird, gegen Milosevic erwies es sich nicht als Trumpf, sondern als Lusche. Sein Einsatz im Prozeß zeigt nur ein weiteres Mal, wie groß die Not der Anklage ist, dem Wunsch der USA und der NATO nachzukommen, Milosevic wenigstens vor dem von ihnen initiierten und gestützten Tribunal zu dem Monster zu machen, mit dem man den verbrecherischen Krieg gegen Jugoslawien rechtfertigen möchte.

Daß der Ex-Präsident mit der Charakterisierung des Videos als »sehr fragwürdig« stark untertrieben hat, geht auch aus einem kleinen, aber aufschlußreichen Detail hervor. In ihrer Berichterstattung hatten die »Jugoslawien-Experten« vom Schlage der Tagesspiegel-Korrespondentin Caroline Fetscher es nicht verabsäumt, dem entsetzten Leser die Opfer der gefilmten Bluttat nahezubringen. Darunter den 16jährigen Safet Fejzic, der »versucht (hatte), im Juli 1995 aus dem eingekesselten Srebrenica in die Wälder zu flüchten«. Ein gekürzter Auszug aus dem Protokoll der Befragung des eingangs erwähnten Entlastungszeugen zeigt, wie fern der Wahrheit diese Darstellung, wie tendenziös das sensationelle Video und wie groß das neuerliche Debakel der Haager Ankläger sind:

»Milosevic: General, wann, grob gesagt, war das Ereignis in Srebrenica? - Stevanovic: Sommer 1995!.. (Auf Wunsch des Angeklagten liest der Zeuge anschließend aus einem Beweisstück vor).

Stevanovic: Am 28. April 1993 hat das Gericht im Gelände Botinska Bara in der Gemeinde Trnovo Untersuchungen und die Exhumierung der sterblichen Überreste von fünf Opfern durchgeführt. Mit Hilfe einer DNA-Analyse wurde festgestellt, daß die sterblichen Überreste eines von ihnen dem Safet Fejzic aus Mosic, Gemeinde Srebrenica, zuzuordnen sind. - Milosevic: Also, General, bedeutet das, daß er zwei Jahre, bevor er als verschwunden gemeldet wurde, exhumiert worden war? - Stevanovic: Ja. - Milosevic: Danke schön. Ich habe keine weiteren Fragen.«

Es überrascht nicht, daß diejenigen objektiven deutschen elektronischen und Printmedien, die so breit und emotionsgeladen über das Video und den »Mordbefehl aus Belgrad« berichteten, nicht über die zu Tage gekommenen Manipulationen und schon gar nicht über die wundersame Wiederauferstehung und zweimalige Ermordung eines beklagenswerten Opfers des Bürgerkrieges in Bosnien informierten.


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